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15. Juli – 3. September 2022

London – eine europäische Musikstadt 

Zwischen Yehudi Menuhins Begegnung mit Edward Elgar im Jahre 1932 und seiner Ernennung zum «Lord Menuhin of Stoke d’Abernon» im Jahre 1993 liegen 61 Jahre. Obwohl Menuhin ein Weltbürger war, kreiste seine Biografie sein Leben lang um die Metropole Grossbritanniens. Hier entwickelte der junge Menuhin (geb. 1916) seine musikalische und persönliche Identität und war seit seinem ersten Besuch um 1930 von der Aufgeschlossenheit und Toleranz der Menschen angetan. Mit seiner zweiten Ehefrau, Diana Gould, liess er sich schliesslich im Jahre 1959 definitiv in London nieder, übrigens im selben Zeitraum, als die beiden in Gstaad das Chalet «Chankly Bore» bauten. Nach Menuhins Tod fand er seine letzte Ruhestätte im Garten der von ihm gegründeten Yehudi Menuhin School in Stoke d’Abernon.

Yehudi Menuhin hatte wie kaum ein anderer Musiker des 20. Jahrhunderts das grosse Glück, in seinem Leben die beiden Titanen englischer Musik der vergangenen 150 Jahre kennenzulernen: Edward Elgar und Benjamin Britten. Elgars Musik zählt zur Epoche der Spätromantik während Britten zur Avantgarde des mittleren 20. Jahrhunderts gezählt werden kann. Zu beiden entwickelte er ein inniges Verhältnis, und beide prägten seinen weiteren Weg entscheidend.

Am 15. Juli im Jahre 1932 ereignete sich in London Historisches: In den Studios der Abbey Road nahm Sir Edward Elgar sein Violinkonzert mit einem 16-jährigen Jugendlichen aus Kalifornien auf, sein Name: Yehudi Menuhin. Elgar war ergriffen und begeistert, brach aber die Aufnahme dennoch vorzeitig ab, weil er am selben Nachmittag das Pferderennen in der Stadt nicht verpassen wollte. Menuhins Spielweise, die technische Überlegenheit verbunden mit dem damals schon tiefgründigen Klang und der grossen Gestaltungsfähigkeit, setzen bei dieser Aufnahme bis heute Massstäbe, die bisher kaum übertroffen worden sind. Die Aufnahme ist seit 1932 die Referenz für sämtliche Interpreten des Elgar Violinkonzertes. Die Zusammenarbeit mit Elgar rund um dieses Projekt beförderten den jungen Menuhin definitiv ins Musikleben Europas und der ganzen Welt – und seine Liebe zur späteren Wahlheimat London nahm ihren Lauf.

Benjamin Britten und Menuhin begegneten sich im Jahre 1945 erstmals an einer Party des Verlegers Boosey & Hawkes. Dabei erfuhr Britten von Menuhins geplanten Konzerten mit dem Pianisten Gerald Moore im soeben befreiten Konzentrationslager Bergen-Belsen. Britten war tief beeindruckt von Menuhins liberaler Sichtweise und seinem selbstlosen Engagement für die Verwundeten und Opfer des barbarischen Krieges. Er begleitete in der Folge Menuhin zu den kommenden Konzerten im Konzentrationslager, und es entwickelte sich eine lebenslange tiefe Freundschaft. Menuhin und Britten zelebrierten diese, indem sie sich regelmässig gegenseitig zu ihren Festivals einluden: Britten nach Aldeburgh und Menuhin nach Bath und Gstaad, wo der Pianist Benjamin Britten zusammen mit seinem Lebenspartner Peter Pears, dem Cellisten Maurice Gendron und Yehudi Menuhin im Jahre 1957 die Eröffnungskonzerte des ersten Menuhin-Festivals spielten.  

Paradox an der Musikszene Londons im 17., 18. und frühen 19. Jahrhundert ist die Tatsache, dass sie massgeblich durch Komponisten aus Kontinental-Europa geprägt war. Komponisten wie Händel, später Johann Christian Bach, Wolfgang Amadeus Mozart (als 8-jähriges Wunderkind mit seinem Vater Leopold) und Joseph Haydn, danach Felix Mendelssohn und Antonín Dvořák waren magisch angezogen von der künstlerischen Wirkung dieser Stadt, die so viele Entfaltungsmöglichkeiten bot, wie auch von der romantischen und wilden Landschaft des Umlandes. Erst Ende 19. Jh./anfangs 20. Jh. endete die europäische Dominanz mit immer populärer werdenden englischen Komponisten wie Elgar, Delius, Bridge, Vaughan Williams, Holst und letztendlich Britten.

Doch wenn wir hier über englische Musik reden und die Entwicklung durch die Jahrhunderte aufzeigen wollen, überfliegt eine englische Inspirationsquelle sämtliche früh-barocke und klassischen Komponisten dieser Zeit: William Shakespeare. Der Dichter verfasste im 16. Jh. Stoffe, die bis heute nachwirken und von Musikern des 21. Jahrhunderts vertont werden. Seine starken Sujets, seine Wortgewalt, die Fähigkeit des grossen Spannungsaufbaus scheinen insbesondere bei Musikern Bilder hervorzurufen, welche sich aufdrängen, in Musik ausgedrückt zu werden. Mendelssohns «A Midsummer Night's Dream» oder Prokofjews «Romeo and Juliet» sind mitunter die bekanntesten Werke, welche auf Stoffe des Dramatikers Shakespeare zurückgeführt werden. Auch im «Lied» wagen sich unzählige Komponisten an Texte von Shakespeare, so unter anderem Franz Schubert, Erich Wolfgang Korngold, Joseph Haydn und Benjamin Britten.

Auffällig am Londoner Musikleben des Barocks und der Klassik war, dass praktisch sämtliches musikalisches Leben im 17. und 18. Jahrhundert bereits ausschliesslich «kommerziell» aufgezogen wurde und umtriebige Opern- und Konzertveranstalter mit privaten Unternehmungen das Musikleben bestimmten: Georg Friedrich Händel traf 1711 in London ein und betrieb sein eigenes Opern-Unternehmen, gemeinsam mit dem Schweizer «Kulturmanager» Johann Jacob Heidegger. Händel verstand es ausgezeichnet, den Geschmack des Londoner Publikums zu treffen. Sein grosses Talent für Dramatik, Emotionen und Repräsentationsmusik fand beim Londoner Adel, dem Königshaus, aber auch dem allgemeinen Publikum grosse Anerkennung, sodass er am Ende seines Lebens gar als englischer Nationalkomponist angesehen wurde. Seine Coronation Anthems, «Zadok the Priest», komponierte Händel für die Krönung von King George II und schuf damit Werke von pompöser Kraft, welche auch heute noch die Grösse von UEFA-Champions- und Fussball-Ligen musikalisch zum Ausdruck zu bringen imstande sind.

Der Musik-Impresario Johann Peter Salomon, welcher ebenfalls aus Deutschland um 1780 nach London kam, wirkte dort als umtriebiger und erfolgreicher Konzertveranstalter. Er war es, der Joseph Haydn in London zum Star aufbaute, bevor dieser überhaupt die Insel betrat. In Salomons Konzertreihen wurden ab den 1780er Jahren konsequent die Sinfonien von Haydn vorgestellt. In den Jahren 1791/92 und 1794/95 inszenierte er Haydns Aufenthalte in London, bestellte die berühmten 12 «Londoner Sinfonien» und initiierte die Entstehung von Haydns Oratorium «Die Schöpfung».

Die Tradition von Reisen europäischer Komponisten nach London wurde im 19. Jahrhundert fortgesetzt, vor allem durch Felix Mendelssohn, der die Insel in seinem kurzen Leben zehnmal besuchte. Er war- oft zu Fuss - unterwegs zwischen Highlands, Hochmoor und Meeresklippen, auf den Spuren von Maria Stuart. 1829 schrieb er aus Schottland an seine Eltern: «In der tiefen Dämmerung gingen wir heut nach dem Palaste, wo Königin Maria gelebt und geliebt hat; es ist da ein kleines Zimmer zu sehen, mit einer Wendeltreppe an der Thür. Der Kapelle daneben fehlt nun das Dach; Gras und Epheu wachsen viel darin, und am zerbrochenen Altar wurde Maria zur Königin von Schottland gekrönt. Es ist da alles zerbrochen, morsch, und der heitere Himmel scheint hinein. Ich glaube, ich habe heut da den Anfang meiner Schottischen Sinfonie gefunden.»

Zwar schrieb er kurz nach dieser Reise die «Hebriden»-Ouvertüre, aber es dauerte noch 13 Jahre und viele weitere inspirierende Schottland-Aufenthalte, ehe seine 3. Sinfonie, die «Schotttische», im Jahre 1842 uraufgeführt wurde.

Dank Londons damaliger Stellung als wohlhabende Weltstadt und führende Finanzmetropole waren viele im Ausland bedeutende Musiker interessiert, in London Anerkennung zu finden. Die im Jahre 1813 gegründete «Royal Philharmonic Society» unterstützte viele Komponisten durch Auftragskompositionen, so unter anderem auch Antonín Dvořák (7. Sinfonie) oder Carl Maria von Weber (Oberon). Mendelssohn wurde gar Ehrenmitglied.

Zahlreiche dramatische Opernstoffe italienischer Komponisten handeln im mittelalterlichen England, so auch Bellinis Belcanto-Oper «I Puritani»: Die Handlung spielt bei Plymouth während des englischen Bürgerkrieges. Der puritanische Heerführer Oliver Cromwell hat die Streitkräfte der Königstreuen 1644 entscheidend geschlagen und den Monarchen Charles I. entmachtet. Als dessen Anhänger, die «Cavaliers», sich 1648 erneut erheben, wird der König gefangen gesetzt und ein Jahr später hingerichtet. Eine der wenigen romantischen Opern mit «Happy End», by the way…

Das berühmteste Foto der Pop-Geschichte: Die «Beatles» laufen in den 1960erJahren in Kolonne über den Fussgängerstreifen der Abbey Road, wo sie die Aufnahme-Studios erreichen, um ein neues Album aufzunehmen. Dank der überragenden Qualität ihrer Musik und ihrer Lyrics schafften es die Beatles, die Verbindung zwischen klassischer Musik und der Pop-Kultur herzustellen. Es gab kein «entweder oder», sondern ein «sowohl als auch», und Pop-Bands wie Pink Floyd, The Rolling-Stones und vor allem «Queen» mit ihrem charismatischen Überflieger Freddie Mercury knüpfen an Dramen der grossen Opernstoffe an. Umgekehrt findet seit den 70erJahren eine stetig zunehmende Annäherung der Klassik an die Pop-Musik statt: Hits werden von Ensembles unterschiedlichster Art arrangiert, instrumentiert und adaptiert und in Vollkommenheit von stimmlichem und instrumentalem Können zelebriert. Vor allem englische A-Cappella Vokal-Ensembles, inspiriert durch die Comedian Harmonists, haben damit in den letzten Jahren ein neues Genre geschaffen, welches ein breites Publikum erreicht. Vor dem Hintergrund der Grenzenlosigkeit in Form und Stil ist auch die für das Gstaad Menuhin Festival entstandene Komposition des britischen Komponisten Thomas Adès (1971) zu sehen: «Over the sea – shanty songs for string orchestra», Musik, angelehnt an traditionelle Matrosen-Lieder, in einer Musiksprache aus dem Jahr 2021. 

Heute zelebriert London ein reiches, vielfältiges, genreübergreifendes Musikleben, dessen Herz und Motor vielleicht die jährlich in den Sommermonaten stattfindenden «BBC Proms» sind. Über 70 Konzerte mit jeweils über 5’000 Zuhörerinnen und Zuhörern feiern dort allabendlich in der Royal Albert Hall und in anderen Konzertsälen der Stadt die Welt, die Magie der Musik. Den gesamten Reichtum der Musikstadt in einer Edition von Gstaad Menuhin Festival & Academy abzubilden, wäre ein Ding der Unmöglichkeit, aber viele Funken dieser Weltstadt der Musik springen kommenden Sommer nach Gstaad über. Zwischen dem 16. Juli und dem 4. September laden wir Sie ein, an diesem musikalischen Fest teilzuhaben. Wir heissen Sie zur 65. Ausgabe von Gstaad Menuhin Festival herzlich willkommen. 

Ihr Christoph Müller, Artistic Director

Dank geht an Mr. Desmond Cecil für seine Recherchearbeit und wichtigen Hintergrund-Informationen.